
„Heimat – Ein deutsches Familienalbum“ von Nora Krug ist das Buch, das mich am meisten beeindruckt hat in 2018. Die seit über 12 Jahren in New York lebende,
in Deutschland 1977 geborene Grafikerin greift in ihrem Familienalbum auf so vielfältige Darstellungsformen zurück, dass es sich aus meiner Sicht um ein völlig neues Genre handelt. Nora Krug
selbst bezeichnet ihr Werk als „graphic memoir“, ein in Amerika gängiger Begriff für gezeichnete Erinnerungen. Eine noch nie dagewesene Mischung aus Grafik und Text, Collagen, Fotos, Comics und
Skizzen vermittelte uns die ganz persönliche Familiengeschichte Krugs, eingebettet in die deutsche Zeitgeschichte. Glücklicherweise hat der Penguin Verlag das Buch in einem größeren Format
veröffentlicht, das genug Raum für die Darstellungsformen ermöglicht.
Nora Krug geht auf Spurensuche im 20. Jahrhundert mit dem Schwerpunkt auf die Nazizeit. Seit sie im Ausland lebt, fühlt sich deutscher als jemals zuvor und möchte
gerne wissen, warum das eigentlich so ist. Also lernen wir vor allem ihren Großvater mütterlicherseits, Willi Rock, kennen, von dem nicht so ganz klar ist, ob er nun ein Nazi war oder doch eher
nicht, und ihren Onkel väterlicherseits, der im Krieg gefallen ist. Sechs Jahre hat die Autorin an dem Werk gearbeitet, um alles zu recherchieren und in die Form zu bringen.
Enthüllt werden keine spektakulären Familiengeheimnisse, sondern die Geschichte von Mitläufern, wie es sie unter den Nazis zu Hauf gegeben hat. Nora Krug bewertet
ihre Rechercheergebnisse nicht, sondern lässt uns einfach teilhaben an ihrer Spurensuche. Sie selbst hat sich gefragt, ob sie eine solche Geschichte überhaupt erzählen kann. Im Laufe der Arbeit
ist ihr dann immer bewusster geworden, „dass gerade das das ist, was mich interessiert, also die Mitläufer, diejenigen, die sich praktisch in der Grauzone des Krieges befinden, weil man deren
Schuld beziehungsweise Unschuld viel schwieriger nur nachweisen kann.“, so Nora Krug in einem Interview des Deutschlandfunks.
Auf dem Cover zeichnet sich die Autorin selbst in der Post von Casper David Friedrichs „Wanderer über dem Nebelmeer“. Sie blickt jedoch nicht auf Nebel, sondern auf
ein deutsches Dorf, an dessen Rand ein brennendes Flugzeug abstürzt. Sie lüftet für sich die Nebel ihrer deutschen Vergangenheit, die untrennbar mit den Schrecken des Krieges verbunden
ist.
Unterbrochen wird die Geschichte immer wieder durch das „Notizbuch einer heimwehkranken Auswanderin“ mit ihrem „Katalog deutsche Dinge“: Hansaplast, der Wald, das
Brot – insgesamt acht typisch deutsche Dinge bekommen eine Seite geschenkt. Auch hier merkt man als Leser, dass es Nora Krug nicht um Vollständigkeit geht, sondern um die ganz persönliche
Sicht auf den Begriff „Deutsch“. Sie selbst sagt dazu „All diese Gegenstände haben natürlich auch eine symbolische Bedeutung in meinem Buch und beim Pflaster geht es darum, dass ich mich als
Deutsche meiner Generation immer noch durch den Krieg und die Erinnerung an den Krieg, die sich ja über Generationen hinweg praktisch weiter vererbt haben, immer noch verletzt fühle und da
spreche ich auch von einer Vernarbung und davon, das Pflaster abzunehmen und die Narbe zu betrachten, was ich mit diesem Buch auch getan habe.“ (Interview Deutschlandfunk).
Viele machen sich heute auf Spurensuche in ihre Vergangenheit und publizieren darüber Bücher, aber Nora Krug wählt eine so andere Form, dass sich dieses Werk
überhaupt nicht mit anderen vergleichen lässt. Mit Lesen alleine kommt man nicht weit, bei der Beschreibung des Buches. Das Zusammenspiel von Text und Bild hat große erzählerische Kraft und sagt
so viel mehr aus als es Text alleine vermag. Das beschreiben dieses Buches reicht alleine nicht aus, man muss schauen. Deshalb bin ich froh, dass der Penguin Verlag weitere Fotos und dieses
kleine Video auf die Seite gestellt hat.
Ich möchte dieses Buch wirklich jedem empfehlen. Die Lektüre lohnt sich im Hinblick auf die gesamte Machart, die Texte und die Reise zu den Erkenntnissen, bei der
man Nora Krug über die Schulter schauen kann. Ich würde mir auch wünschen, dass die deutschen Schulen den Mut haben, sich einmal anders mit Geschichte auseinanderzusetzen. Persönliche Geschichten
gehen so viel näher, als anonyme Zahlen, Daten und Fakten. Ein ganz und gar ungewöhnliches Buch. Ich hoffe sehr, dass wir von dieser Autorin noch viel lesen und schauen dürfen.
Vielen herzlichen Dank an den Penguin-Verlag für das Leseexemplar.
Wer sich noch mehr mit dem Werk auseinandersetzen möchte, hat am 12. März 2019 im Literaturhaus Hamburg im Rahmen der Graphic Novel Tage mit dem Berliner Comiczeichner Hamin Eshrat
die Möglichkeit dazu.
Details zum Buch
€ 28,00
Verlag: Penguin
Gleich bestellen: 04161-9999700 oder im Shop.